Jutta Stamer

Vom liberalen zum multikulturellen Konstitutionalismus.

Eine Untersuchung zur Institutionalisierung kultureller Differenz

am Beispiel der kanadischen Verfassung

 

 

Vortrag: Verfassung als Form politischer Repräsentation des multikulturellen Kanada? Verfassung und Nation im politischen Denken Pierre Elliott Trudeaus

 

 

Mein Vortrag präsentiert einen Teilaspekt des Dissertationsprojektes Vom liberalen zum multikulturellen Konstitutionalismus. Eine Untersuchung zur Institutionalisierung kultureller Differenz am Beispiel der kanadischen Verfassung (Arbeitstitel). Die Arbeit untersucht die kulturellen Stabilisierungsleistungen der kanadischen Verfassung im Kontext eines ethnokulturell vielfältigen Gemeinwesens und geht dabei von der systematischen Überlegung aus, dass eine Verfassung eine instrumentelle und eine symbolische Dimension besitzt, die konstitutiv aufeinander bezogen sind. Die Verfassung wird mithin als funktional-steuerndes Instrument, zugleich aber auch als Spiegel gesellschaftlicher Leitideen thematisiert.

 

Die heute gültige kanadische Verfassung stammt von 1982.[i] Als einheitsstiftendes Reformprojekt war sie Ende der 1960er Jahre von Premierminister Trudeau auch und vor allem vor dem Hintergrund zunehmender ethnokultureller Vielfalt und der davon ausgehenden desintegrativen Kräfte in der Kanadischen Föderation angestoßen worden. Einen wesentlichen Aspekt stellte der mit politischen Emanzipationsbestrebungen verbundene Nationalismus der frankophonen Provinz Quebec dar. Selbst quebecker Herkunft, engagierte sich Trudeau im intellektuellen Diskurs über die Selbstwahrnehmung Quebecs als Nation und etablierte dieserart einen antinationalen Diskursstrang, der seine Entsprechung in einer spezifischen rationalen Identitätslogik findet. Diese Identitätslogik spiegelt sich in der Verfassung von 1982 als Leitidee wieder. 

 

Vor dem Hintergrund der Konzeptionalisierung politischer Repräsentation als symbolhafter Verkörperung und zeichenhafter Repräsentanz soll der Beitrag die Idee der Verfassung gegenüber der Nation im politischen Denken Trudeaus anhand ausgewählter Texte darstellen. Die Verfassung verkörpert für Trudeau – anders als die Nation – die Leitidee einer aufgeklärten, rationalen, einer individualistischen und universalistischen politischen Identität eines geeinten Kanada (symbolische Verkörperung). Als solche wird die Verfassung zugleich vorgestellt als Regelwerk eines ethnokulturell vielfältigen und multinationalen Gemeinwesens (zeichenhafte Repräsentanz). Im Beitrag soll gezeigt werden, wie sich im politischen Denken Trudeaus zur Verfassung gegenüber der Nation die gegenseitige Durchdringung beider Dimensionen politischer Repräsentation, der symbolhaften Verkörperung und der zeichenhaften Repräsentanz nachweisen lassen.

 



[i] Dies ist unter Vorbehalt zu betrachten: Quebec hat die Verfassung bis heute nicht unterzeichnet, weil es darin nicht offiziell aufgrund seines frankophonen kulturellen Erbes als – so die Formel – „Gesellschaft mit besonderem Charakter“ (société distincte) anerkannt wird. Bisher scheiterten zwei Versuche, die nach 1982 verbleibenden konstitutionellen Unzulänglichkeiten zu kompensieren: Die Meech-Lake-Vereinbarung wurde 1990 nicht ratifiziert und damit hinfällig, in einem Referendum lehnte eine Mehrheit 1992 den als Charlottetown Accord bekannten Verfassungsreformvorschlag ab. Gleichwohl erfreuen sich laut einer Umfrage des Center for Research and Information on Canada zum 20-jährigen Bestehen der Grundrechtscharta 2002 heute gerade jene 1982 höchst umstrittenen kulturell belangvollen Grundrechtsklauseln des Bilingualismus und des Multikulturalismus besonders in Quebec großer Beliebtheit. Dies mag in der Quebec zum Teil entgegenkommenden Auslegung der Grundrechtsbestimmungen durch den Obersten Gerichtshof begründet liegen.