Vom liberalen zum multikulturellen Konstitutionalismus.
Eine Untersuchung zur Institutionalisierung kultureller Differenz
am Beispiel der kanadischen Verfassung
Vor dem Hintergrund der Konzeptionalisierung politischer Repräsentation als symbolhafter Verkörperung und zeichenhafter Repräsentanz soll der Beitrag die Idee der Verfassung gegenüber der Nation im politischen Denken Trudeaus anhand ausgewählter Texte darstellen. Die Verfassung verkörpert für Trudeau – anders als die Nation – die Leitidee einer aufgeklärten, rationalen, einer individualistischen und universalistischen politischen Identität eines geeinten Kanada (symbolische Verkörperung). Als solche wird die Verfassung zugleich vorgestellt als Regelwerk eines ethnokulturell vielfältigen und multinationalen Gemeinwesens (zeichenhafte Repräsentanz). Im Beitrag soll gezeigt werden, wie sich im politischen Denken Trudeaus zur Verfassung gegenüber der Nation die gegenseitige Durchdringung beider Dimensionen politischer Repräsentation, der symbolhaften Verkörperung und der zeichenhaften Repräsentanz nachweisen lassen.
[i] Dies ist unter Vorbehalt zu
betrachten: Quebec hat die Verfassung bis heute nicht unterzeichnet, weil es
darin nicht offiziell aufgrund seines frankophonen kulturellen Erbes als – so
die Formel – „Gesellschaft mit besonderem Charakter“ (société distincte)
anerkannt wird. Bisher scheiterten zwei Versuche, die nach 1982 verbleibenden
konstitutionellen Unzulänglichkeiten zu kompensieren: Die Meech-Lake-Vereinbarung
wurde 1990 nicht ratifiziert und damit hinfällig, in einem Referendum lehnte
eine Mehrheit 1992 den als Charlottetown Accord bekannten
Verfassungsreformvorschlag ab. Gleichwohl erfreuen sich laut einer Umfrage des Center
for Research and Information on Canada zum 20-jährigen Bestehen der
Grundrechtscharta 2002 heute gerade jene 1982 höchst umstrittenen kulturell
belangvollen Grundrechtsklauseln des Bilingualismus und des Multikulturalismus
besonders in Quebec großer Beliebtheit. Dies mag in der Quebec zum Teil
entgegenkommenden Auslegung der Grundrechtsbestimmungen durch den Obersten
Gerichtshof begründet liegen.