Visuelle und mediale Strategien der Vergangenheitsinszenierung
(Viola Belghaus)

I.
Tradition und Historie sind in der mittelalterlichen Praxis Ergebnis hochgradig konstruierter und inszenierter Prozesse, die nicht allein auf die historiographische Überlieferung als Trägermedium vertrauen, sondern in gleicher, wenn nicht sogar größerer, Gewissheit materielle Relikte als Beglaubigungsinstanz einbeziehen. [1] Im wesentlichen sind zwei Phasen der Erinnerungskonstruktion zu unterscheiden: die Installation des Gedächtnisses in der schriftlichen Überlieferung und dessen Visualisierung in verschiedenen auch bildnerisch geformten Trägermedien. Das Selbstverständnis, das sich in Chroniken und anderen historiographisch gefärbten Texten spiegelt, muss erst sichtbar in allgemein zugänglichen Medien propagiert werden, um die nötige Wirkung zu entfalten und im öffentlichen Bewusstsein präsent zu bleiben. Insofern müssen Traditions- und Gedächtniskonstruktionen nicht nur auf ihre jeweiligen Quellen und Zielrichtungen untersucht werden, es gilt gleichermaßen die medialen Bedingungen der Gesamtinszenierung zu beleuchten, die aus einem Zusammenklang von Schriften, Artefakten, Bildern, Realien, Inschriften, Reliquien sowie den rituellen, liturgischen und paraliturgischen Aneignungsformen bestehen kann.

Ziel des Forschungsprojektes ist es, die spezifischen medialen Bedingungen von Gedächtnisorten anhand exemplarischer Fallstudien zu beleuchten, in denen Erinnerung nicht allein über die historiographisch fixierten Überlieferungsstränge tradiert, sondern in konkreten Zielpunkten einer dinglich verfestigten Memorialtopographie zeichenhaft präsent wird. Leitmotivisch stehen dabei Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Träger- und Speichermedien aber auch nach dem Bewusstsein um diese Bedingungen und daraus abgeleitete Strategien der Inszenierung im Mittelpunkt. Die gegenständliche Überlieferung ist nicht immer gleichförmig und kann in verschiedenartiger Gestalt als Erinnerungsstück, Kopie und Memorialbild in ihrer Materie, ihrer Form oder in ihrem Inhalt Erinnerung speichern. [2] Dabei sollen nicht allein die intentionale Aktivität der Stifter, sondern gleichermaßen die verschiedenen Rezeptions- und Gebrauchskontexte der anvisierten „Zielgruppen“, die durchaus subversive Rezeptionshaltungen einnehmen können, herausgearbeitet werden. Zu dieser synchronen Beschreibung der Gedächtnisinstallation kann eine diachrone Analyse auch die verschiedenen Aneignungsformen, Neuinterpretationen und korrigierten Nutzungsinteressen beleuchten, die aus der Perspektive einer Funktions- und Rezeptionsgeschichte betrachtet, ungemein vitale Transformationsprozesse zwischen den Bedürfnissen von Stiftern und Rezipienten reflektieren. Zudem sollen die Fallbeispiele aus unterschiedlichen Traditionen und Intentionen gewählt werden, um in einem weit gefächerten Rahmen der Bedeutungskontexte, eine vergleichende Perspektive zu eröffnen: Am Beispiel kirchlicher, fürstlicher und bürgerlicher Traditionskonzepte werden die Gemeinsamkeiten und Differenzen medialer Strategien der Vergangenheitsinszenierung erarbeitet.

II.
In der kirchlichen Tradition rückt ein Speichermedium in das Zentrum der Erinnerungskonstruktion, das vielleicht die ursprünglichste Überblendung von Bild und Körper überliefert: Der Kult um heilige Gründer oder Mitglieder der jeweiligen Institution entzündete sich an den authentischen Relikten des Heiligen, an seinem Grab und seinen Reliquien. Hier ist das Verhältnis von Körperpräsenz und Körperrepräsentation und der Inszenierbarkeit des Körpers unmittelbar gegenwärtig. Mittelalterliche Heiligendarstellung bewegt sich im Spannungsfeld von Präsenz und repräsentativer Vergegenwärtigung, denn Zentrum einer jeden kultischen Aneignung waren die körperlichen Relikte des Heiligen, in denen seine physische Präsenz noch immer anwesend und wirkungsmächtig vorhanden geglaubt wurde. Spätestens seit dem auf dem IV. Laterankonzil (1215) formulierten Verbot, Reliquien außerhalb von Reliquienbehältern zu präsentieren, kam dem Heiligenbildnis als sichtbares Äquivalent von Heiligengrab und Körperfragment eine größere Bedeutung zu. Dabei sind vor allem die Repräsentationsformen von Interesse, die durch die gleichzeitige Präsenz der unsichtbar geborgenen Reliquie den Heiligenkörper zugleich entziehen und visuell inszenieren und simulieren. Das Heiligenbildnis ist jedoch nicht allein kultischen Zwecken dienstbar, es kann ebenso der Garant von überlieferten Rechtsansprüchen und eine sakral überhöhte Legitimationsfigur der den Heiligenleib bergenden Instanzen sein. Am Beispiel des Karlsschreins im Aachener Dom etwa ist die Verflechtung von sakralen und politischen Motivationen sehr augenfällig, wobei hiermit nicht die ältere Forschungsmeinung einer kaiserlichen Selbstdarstellung durch den vermeintlichen Stifter Friedrich I. Barbarossa reaktiviert werden soll, [3] sondern als Beleg eines komplex ausformulierten vielschichtigen Beziehungsgeflechtes aus heiligem Körper, Amtsgenealogie und Stifterkorporation gelten muss, die auf das Aachener Marienstift als Ort des überzeitlich präsenten Heiligenleibes und Stätte der rechtmäßigen Krönung der deutschen Könige bezogen ist. Eine Reihe von sechzehn inschriftlich benannten Herrschern vervollständigt die vom heiligen Karl als „Spitzenahn“ begonnene Sukzessionskette als diachrone, die Generationen und Geschlechter umspannende Verknüpfung, die nicht zuletzt mit den Gebeinen Karls des Großen der Königswürde ein ideell gedachtes Zentrum gibt. Die Memoria ist als permanentes kollektives Gedächtnis einer Institution, die den Herrscher erst rechtsgültig in sein Amt einsetzt, realisiert. Damit verschiebt sich das Memorialgedenken über die wechselnden Amtsinhaber hinweg auf die Institution des Königtums, und die Herrscherreihe gibt diesem Gedenken ein bildliches Pendant: Der geborgene Körper des heiligen Karl als erstem Inhaber der Königswürde wird durch eine ausgewählte Folge von sechzehn Nachfolgern verkörpert – ein Leib wird von vielen Leibern repräsentiert, und die Memorialhandlungen fixieren diese Präsenz der Körper am Ort der Krönung.

Die kollektive Memoria kann auf eine Gründerfigur abzielen, mit der einerseits eine gruppenbildende Selbstlegitimation erreicht wird, andererseits aber ebenso über die literarisch aufbereitete Vita dieser Gründerfigur eine Vorbildfunktion profilieren, die ganz konkret als Prototyp, Maßstab und wenn nötig als Korrekturfolie seiner Amtsnachfolger wirkt. Am Heribertschrein in Köln-Deutz etwa begründet sich eine Auffassung der Lebensschilderung, die dem Heiligenbild verstärkt Informationen über die historische Persönlichkeit des kanonisierten Kölner Erzbischofs abgewinnt, deren Werdegang und Wirken historisch verankert und die vorbildsetzenden Aspekte aus der Amtsausübung ableitet. Damit gerät das Bildprogramm in die Nähe eines Bischofsspiegels, mit dem „den Kölner Erzbischöfen von Deutz aus ein Spiegel vor Augen gehalten“ wurde. [4]

Das letzte Beispiel zeigt, dass insbesondere monastische Traditionen eine enge Synthese mit der Stiftermemoria eingehen können, denn die Präsentation des Heiligenleibes lässt auch an die Funktion des Heiligengrabes als Ausdruck des Stiftergedenkens anschließen. [5] Mit dem erweiterten Fokus auf Stiftergrablegen ist beispielsweise die Besetzung des geförderten oder neu gegründeten Stiftungsraums durch Grablegen oder Repräsentationszeichen, gewissermaßen als Ausdehnung der Stiftermemoria in den topographischen Körper zu untersuchen. Die Stifterfiguren des Naumburger Westchors errichten durch ihre strukturelle Bindung an die Architektur und durch ihre Ablösung aus dem Rezeptionskontext der Grablege den abgeschlossenen Chor zu ihrem Repräsentationsort, auch indem sie jeglichen Verweischarakter als stellvertretendes Bildnis negieren und sich diese „steinernen Bewohner“ kaum von den realen Benutzern unterscheiden. [6] Trotz der zum Zeitpunkt der Errichtung des Chors etwa zweihundert Jahre zurückliegenden Lebenszeit der Dargestellten verbindet sich mit dieser Stiftermemoria die Suggestion von Gegenwart und Identität, die nicht unwesentlich auf dem Zusammenspiel ihrer ikonischen und körperlichen Präsenz basiert.

Die Stiftermemoria, die sich in Naumburg in einem nachträglich installierten Gedenken einer lang zurückliegenden Stiftergeneration realisierte, kann natürlich auch vom Stifter selbst initiiert und als Mittel der Selbstrepräsentation genutzt werden. Aber auch die individuelle Memoria und Selbstdarstellung ist nur scheinbar auf Einzigartigkeit gelenkt: Stellvertretende Zeichen, wie zum Beispiel das Wappen, das seit dem 12. Jahrhundert einen immensen Verbreitungsgrad erlangte, bezeichnen immer auch den größer gedachten Zusammenhang der Familie oder Dynastie und repräsentieren so die genealogische Traditionsbildung und
-bindung. Demnach ist auch die Präsenz und Repräsentation virtueller Körper und Bilder zu beschreiben, die sich in symbolischen Formen ausdrücken und Räume strukturieren können.

Eine spezifische Form des Stiftergedenkens, die unmittelbar auf den inszenierten Charakter der Tradition verweist, ist mit fiktiven oder manipulierten Stiftergedächtnissen nachweisbar. Beispiele einer absichtsvoll konstruierten bisweilen auch gefälschten Gründungstradition, um einer Institution eine besonders weit zurückreichende und würdevolle Vergangenheit zu sichern, mit der oftmals Privilegien, Besitztümer und Vormachtstellungen begründet werden, lassen sich mühelos finden. Aus der Perspektive der materiellen und bildlichen Überlieferung sind aber die Beispiele besonders aufschlussreich, in der die Manipulation auch auf die visuelle und rituelle Präsentation übergreift. So wurde etwa die Memoria für Heinrich den Zänker, der in St. Emmeram (Regensburg) für seine Verdienste um die Klosterreform verehrt wurde, nur unscharf zu der seines Sohnes Heinrich II. abgegrenzt, vermutlich als bewusste Strategie, um das Grabmal aufzuwerten. [7] Die Variation der Beispiele zeigt bereits, dass in diesem Untersuchungszusammenhang nach den differierenden Ansprüchen und Zielen der Stifter und der dotierten Institution gefragt werden muss, denn die ursprüngliche Stiftungsabsicht kann im Lauf der Nutzung abgeschwächt oder aus einer konkurrierenden Perspektive gänzlich umgedeutet werden, beispielsweise im Fall der Cappenberger Stiftergräber, für die eine Neuformulierung aus späterer Zeit vorliegt. Zudem zeichnen sich überschneidende und vergleichbare Praktiken der individuellen und kollektiv-institutionellen Stiftermemoria ab. Auch wenn das zunächst wenig überraschend ist, da die Traditionsbildung in beiden Kontexten eng verbunden, nicht selten sogar kongruent gestaltet wird, muss dennoch den Parametern der Differenzierung nachgegangen werden.

III.
Fürstliche, das heißt adlige und herrschaftliche Traditionen, sind in hohem Maße intentional aufgeladen, denn Herrschaft erfordert Tradition, sie benötigt Erinnerung und die mediale Umsetzung und Speicherung des Gedenkens. [8] Die visuelle Gestalt der Herrschaftslegitimation konkretisiert sich nicht zufällig zunächst an Grabmal und Grablege und ist damit in hohem Maße an das Bild, den Körper und das verkörperte Bild gebunden. Gradmesser für das Verhältnis von Identität, Individuum und dessen repräsentativer Vergegenwärtigung ist das Grabbild, das in einem präzise definierbaren Stiftungs- und Memorialkontext auftritt. Insbesondere am Themenkomplex mittelalterlicher Totenmemoria beziehen sich die Memorialhandlungen auf die individuelle Person und halten diese mit Namensnennung und Gedenken des Todestages präsent. Darüber hinaus existieren aber weitere Funktionen, die an das Grabbild gebunden sind: Blicken wir zum Vergleich auf Bischofs- oder Abtsgrabmäler so wird rasch deutlich, das neben dem Individualkriterium abbildender Leiblichkeit stets auch Zusammenhang und Ordnungsprinzipien stiftende Kategorien, die auf einen gemeinsamen Amtskörper bezogen sind, berücksichtigt werden müssen. [9] Hier kann ein Spannungsfeld von veristischen und typisierenden Darstellungsmodi entstehen, mit dem der Individualkörper subordiniert und dem Gruppenkörper eingeschrieben wird. Damit erweitert sich die Individualmemoria um die wesentliche Funktion einer auf Selbstdarstellung und Legitimation abzielenden kollektiven Memoria, die mit einer anschaulich präsentierten Amtssukzession Kontinuität und Geschichtlichkeit erzeugt. Besonders prägnant ist das Phänomen an dynastischen und genealogischen Grablegen zu fassen. Auch hier geht es zunächst um genealogisch begründete Legitimationsstrategien, mit denen Kontinuität und Herrschaft – auch über dynastische Wechsel hinweg – begründet wird. Handelt es sich zudem um königliche Grablegen, kommen zusätzlich staatsrechtliche Diskurse zur Anschauung, die das duale Verhältnis von Körper und Korporation thematisieren. [10] Die Interaktion von sterblichem, privaten Körper und unsterblichem corpus politicum [11] und die bildnerischen Strategien, mit denen die Differenz und Kongruenz von Individualkörper und Amtskörper akzentuiert werden, haben eine große Variationsbreite königlicher Grablegen von bildlosen Tumben (Speyer) über stark schematisierte, dem „Gruppenzwang“ ausgelieferten Grabfiguren (Saint-Denis) bis hin zum Einzelbildnis (Rudolf von Habsburg, Speyer) hervorgebracht. Im deutschen Raum musste sich das königliche Grabbild erst gegen eine dominante bildlose Tradition durchsetzen: Die körperhaft ausgebildete Grabplatte bewährte sich erst in einer Konkurrenzsituation, indem sie sich zumeist bei den Grabmälern von Gegenkönigen und ambitionierten Kandidaten profilierte (Rudolf von Schwaben, Merseburg; Heinrich der Löwe, Braunschweig). [12]

Der Körper, präziser formuliert, die Körperdarstellung wird demnach als ein Medium der Gedächtniskultur verstanden, das zum einen den materiellen Zielpunkt der Memorialhandlungen bildet, zum anderen durch seine Einbettung in genealogische Systeme synchrone und diachrone Bezüge evoziert. Die Strategien der Inszenierung verweisen nicht allein auf den realen Leib, sondern beziehen den konstruierten und sozial verorteten Körper ein. Dieser verweist auf den korporativen Verband für den der reale Körper einsteht und als dessen Stellvertreter er figuriert. Es ist auch nach den bildnerischen und rhetorischen Strategien zu fragen, die diesem Körper über die Präsenz des Gebetsgedenkens hinaus eine Geschichte zurückgeben, ihm über diese Historisierung Legitimationsstrategien einschreiben und retrospektive wie auch prospektive, mit dem Versprechen auf Kontinuität verbundenen Legitimation realisieren. In den meisten Fällen wird es dabei wohl um eine auf Individualmemoria zielende Repräsentation gehen, die diese Traditionsbildung zu selbstlegitimativen Zwecken installiert, die vor allem dynastische Kontinuität erzeugt und begründet [13] und dementsprechend panegyrisch überformt. Seit dem 13. Jahrhundert drängen auch kleinere Höfe und Adelsgeschlechter vermehrt zu geschichtlicher Überlieferung und deren Umsetzung in eine Memorialtopographie, um ihr Geschlecht zu glorifizieren, ihre Macht zu festigen und Herrschaftsräume zu strukturieren. Nicht zuletzt entsteht durch die Verschiebung von Herrschaftsräumen die Notwendigkeit, fremde Traditionen zu adaptieren und der dynastischen Überlieferung einzuverleiben. [14] Zudem bietet sich in diesem Kontext eine diachrone Analyse mit Ausblicken in die frühe Neuzeit an, in der auch bürgerliche Gruppen und Einzelpersonen einen Zugang zu Herrschaftssystemen erlangen konnten, damit spezifische Legitimationsformen ausbilden und letztlich ihre Traditionslinien gewissermaßen neu erfinden mussten. [15] Gerade hier lassen sich vermutlich besonders deutlich Legitimationsstrategien ablesen, standen doch besonders Nebenlinien, gefürstete Höflinge und andere „Emporkömmlinge“ unter größerem Rechtfertigungsdruck und übten damit Schrittmacherfunktionen aus. Vermutlich vollzieht sich in diesem Kontext die Übertragung der Gedächtniskörper aus dem geschlossenen Kontext der Grablege in den öffentlichen Raum, in dem sie mittels Statue, Wappen oder Bildnis zur politischen Raumbildung beitragen. [16]

IV.
Dennoch darf darüber ein wesentliches und bisher noch nicht konsequent untersuchtes Phänomen vernachlässigt werden. Es ist das der kollektiven Memoria, die einen einzelnen Repräsentanten oder Stellvertreter zum Medium einer Erinnerung macht, die aber nicht auf das Individuum und damit auf Individualrepräsentation zielt, sondern die Ansprüche eines kooperativen Verbandes artikuliert. Die Beziehung zwischen Individual- und Gruppenmemoria kann wechselseitig überkreuzt und beiderseitigen Interessen dienstbar sein, wenn beispielsweise die Gräber der französischen Könige in der Abteikirche Saint-Denis das natürliche Recht auf Herrschaft mit dem Fundament der Ahnenreihe begründen, die Abtei hingegen aus dieser Ahnenreihe ihr natürliches Recht auf die Funktion als Nekropole des Königshauses ableitet. [17]

Unter dem Problemhorizont der wechselseitigen und konkurrierenden Strategien individueller und kollektiver Repräsentation soll im dritten Schritt gefragt werden, ob und in welcher Form diese Möglichkeiten der Repräsentation leitmotivisch auf neu entstehende Stifterkorporationen – beispielsweise bürgerliche und kommunale – übertragbar sind. Am Beispiel der Fuggerkapelle in Augsburg etwa kann gezeigt werden, wie eine bürgerliche Klientel mit zwielichtiger Vergangenheit ihre faktische Vormachtstellung begründet und dafür dynastisch-höfische Traditionsüberlieferungen adaptiert. [18] Die Nürnberger Bürger hingegen überzogen mit ihrer umfangreichen Stiftungstätigkeit die zentralen Kirchen der Stadt mit einer Topographie familiärer Gedächtnisorte, die neben Konzepten der Jenseitsfürsorge auch Strategien der ständischen Repräsentation sowie rat- und stadtpolitische Allianzen dokumentierten. [19] Und schließlich ist die Gedächtniskultur reformierter Hansestädte aufschlussreich, da wir dort eine prägnante Differenz vom tradierten System mittelalterlicher Totenmemoria fassen können, in der es offensichtlich nicht darum ging, Gedächtnistraditionen über mehrere Generationen dauerhaft zu etablieren. Phänomene wie die mehrfache Belegung einer Grabstelle, ihr Verkauf zugunsten einer besser positionierten sowie eine vorwiegend schlichte Gestaltung der Tumbenplatten dokumentieren einen pragmatischen Umgang mit dem Totengedächtnis. Sie bilden eine Gesellschaft ab, in der, anders als in der adligen Gedächtniskultur, weniger die Tradition der Vorfahren als vielmehr ein verzweigtes Netz gesellschaftlicher Beziehungen in den Fokus gerückt wurden. Insofern verlagerte sich das Hauptgewicht der Gedächtnisstrategien vom Grabmonument zu den ephemeren Repräsentationsformen (Begräbnis, Leichenzug) im Trauerzeremoniell. [20] Dennoch lassen sich vereinzelt Ansätze zur Bildung genealogischer Tradition erkennen, mit deren Hilfe die derzeitige gesellschaftliche Position durch die Kontinuität der Familie legitimiert wird – allerdings nicht im öffentlichen Medium der Grabmals- oder Stiftungskultur, sondern im weitaus diskreteren Medium der Familienchronik und Familiengenealogie. Darüber hinaus konnten die Repräsentationsinteressen der Bürger aber auch in den Monumenten des kommunalen Selbstverständnisses aufgehen (Rathäuser, Brunnen etc.).

V.
Zu den mittelalterlichen Grabdenkmälern existieren bislang eine Reihe von Einzeluntersuchungen, die besonders in den letzten Jahren Aspekte der Memoria und Repräsentation einbezogen haben. Überblickswerke sind jedoch nach wie vor auf die typengeschichtlichen Entwicklungsstränge fokussiert. [21] Der liturgische und zeremonielle Kontext und die denkbaren Öffentlichkeiten wie Teilöffentlichkeiten, in denen sich die Bildprogramme bewähren mussten, bleiben aber weiterhin ein Desiderat der Forschung. Insbesondere der Aspekt der Traditionsbildung eignet sich zur Analyse, weil er den Blick auf assistierende Bildformen und Medien erweitert und die typologischen und ikonographischen Grundvoraussetzungen der Repräsentation und Legitimation erarbeiten kann. Darüber hinaus ist die Perspektive noch nicht entschieden genug auf weitere Gattungen der Traditionsstiftung und –sicherung (dynastische Repräsentation, Familienstiftungen, städtische Monumente) erweitert worden. Somit rücken Fragen nach den medialen Strategien identitätsstiftender, das Selbstverständnis des Individuums und der Gruppe formender und überformender Repräsentation in den Mittelpunkt, die in verschiedenen Funktionszusammenhängen verglichen werden müssen. Dabei soll im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit auch nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten des memorialen Gedenkens in Perioden sozialen Wandels unter dem Einfluss unterschiedlicher gesellschaftlicher, politischer und religiöser Vorstellungen gefragt werden.

 

Anmerkungen:

[1] Hier ist bereits einschränkend darauf zu verweisen, dass eine strikte Polarität von schriftlicher und materieller Überlieferung ohnehin nicht greift, da auch Schriftlichkeit an die dingliche Gestalt der Codizes gebunden und die moderne virtuelle, jederzeit verfügbare Gestalt des Textes der mittelalterlichen Rezeption nicht vertraut war, das Zusammenspiel verschiedener Erinnerungsmedien untersucht Stephan Albrecht, Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis, München / Berlin 2003.

[2] Vgl. Albrecht, Inszenierung (wie Anm. 1), S. 14.

[3] Vgl. Ernst Günther Grimme, das Bildprogramm des Aachener Karlsschreins, in Karl der Große und sein Schrein in Aachen. Eine Festschrift, hrsg. von Hans Müllejans, Aachen 1988, S. 124-135.

[4] Vgl. Susanne Wittekind, Heiligenviten und Reliquienschmuck im 12. Jahrhundert. Eine Studie zum Deutzer Heribertschrein, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 59, 1998, S. 7-28, siehe S. 20.

[5] Zur strukturellen Verwandtschaft von Stifter- und Heiligengrab siehe Christine Sauer, Fundatio und Memoria. Stifter und Klostergründer im Bild 1100-1350, Göttingen 1993, (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 109).

[6] Vgl. Michael Viktor Schwarz, Liturgie und Illusion. Die Gegenwart der Toten sichtbar gemacht (Naumburg, Worms, Pisa), in: Grabmäler. Tendenzen der Forschung an Beispielen aus Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Wilhelm Maier, Wolfgang Schmid und Michael Viktor Schwarz, Berlin 2000, S. 147-178; stellvertretend für die umfangreiche Naumburg-Forschung siehe die Zusammenfassung bei Caroline Horch, Der Memorialgedanke und das Spektrum seiner Funktionen in der Bildenden Kunst des Mittelalters, Königsstein im Taunus 2001, S. 155ff.

[7] Vgl. Alois Schmid, Die Herrschergräber in St. Emmeram zu Regensburg, in: DA 32, 1976, S. 333-369; Eckhard Freise, St. Emmeram zu Regensburg, in: Ratisbona sacra. Das Bistum Regensburg im Mittelalter. Katalog der Ausstellung anlässlich des 1250jährigen Jubiläums der kanonischen Errichtung des Bistums Regensburg durch Bonifatius 739-1989, München / Zürich 1989.

[8] Vgl. Klaus Schreiner, Religiöse, historische und rechtliche Legitimation spätmittelalterlicher Adelsherrschaft, in: Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa, hrsg. von Otto Gerhard Oexle und Werner Paravicini, Göttingen 1997, S. 376-430, (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 133), siehe S. 376ff.

[9] Vgl. z. B. Kerstin Hengevoss-Dürkop, Äbtissinnengrabmäler als Repräsentationsbilder: Die romanischen Grabplatten in Quedlinburg, in: Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, hrsg. von Otto Gerhard Oexle und Andrea von Hülsen-Esch, Göttingen 1998, S. 45-88; Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid, Die Grabdenkmäler der Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz, Trier 2004.

[10] Vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990; Hans Belting, Repräsentation und Anti-Repräsentation. Grab und Porträt in der frühen Neuzeit, in: Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, hrsg. von Hans Belting, Dietmar Kamper und Martin Schulz, München 2002.

[11] Hier sind eine Reihe von Zwischenstufen und Variationen etwa ephemere Scheinleiber (effigies) oder im Grab präsente, gelegentlich auch dargestellte vergängliche Leichname zu berücksichtigen, vgl. z. B. Dominic Olariu: Körper, die sie hatten – Leiber, die sie waren. Totenmaske und mittelalterliche Grabskulptur, in: Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, hrsg. von Hans Belting, Dietmar Kamper und Martin Schulz, München 2002, S. 85-104.

[12] Vgl. Hans Körner, Individuum und Gruppe. Fragen nach der Signifikanz von Verismus und Stilisierung im Grabbild des 13. Jahrhunderts, in: Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, hrsg. von Otto Gerhard Oexle und Andrea von Hülsen-Esch, Göttingen 1998, S. 89-126.

[13] Vgl. z. B. Tanja Michalsky, Memoria und Repräsentation. Die Grabmäler des Königshauses Anjou in Italien, Göttingen 2000, (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 157).

[14] Vgl. z. B. Henrik Karge, Die geborgte Tradition. Zu den Mosaikbildnissen der normannischen Könige in der Matorana in Palermo und im Dom zu Monreale, in: Bildnis und Image. Das Portrait zwischen Intention und Rezeption, hrsg. von Andreas Köstler und Ernst Seidl, Köln / Weimar / Wien 1998.

[15] Siehe etwa die umfangreiche Stiftungstätigkeit des burgundischen Kanzlers Nicolas Rolin, vgl. Hermann Kamp, Memoria und Selbstdarstellung. Die Stiftungen des burgundischen Kanzlers Rolin, Sigmaringen 1993.

[16] Siehe etwa das Beispiel des Condottiere Bartolomeo Colleoni, vgl. Dietrich Erben, Bartolomeo Colleoni. Die künstlerische Repräsentation eines Condottiere im Quatrocentro, Sigmaringen 1996. Auch urbanistische Weiterentwicklungen wie die herrscherlich benannte Platzanlage mit Palast und öffentlich postierter Herrscherstatue entstanden nicht selten auf ähnliche Veranlassung, vgl. z. B. Gisela Heinrich, Sabbioneta. Eine Residenzstadt der Renaissance, Weimar 1999.

[17] Vgl. Körner, Individuum (wie Anm. 12), S. 103.

[18] Die Fugger entstammten keiner patrizischen Tradition, sondern waren als Weber nach Augsburg eingewandert, setzten sich aber innerhalb von wenigen Generationen an die Spitze der Augsburger Gesellschaft, vgl. Bruno Bushart, Die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg, München 1994.

[19] Vgl. z. B. Corine Schleif, Donatio et Memoria. Stifter, Stiftungen und Motivationen an Beispielen aus der Lorenzkirche in Nürnberg, München 1990.

[20] Vgl. Klaus Krüger, Corpus der mittelalterlichen Grabdenkmäler in Lübeck, Schleswig, Holstein und Lauenburg 1100-1600, Stuttgart 1999, (Kieler Historische Studien 40); Gregor Rohmann, Die Gräber der Hamburger: Ein Sonderfall in der Geschichte?, in: Tod und Verklärung. Grabmalskultur in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Arne Karsten und Philipp Zitzlsperger, Köln / Weimar / Wien 2004, S. 157-182.

[21] Vgl. zuletzt Hans Körner, Grabmonumente des Mittelalters, Darmstadt 1997.