Historischer Kontext
Es ist alles andere
als eine bekannte Tatsache, dass es während des Ersten Weltkrieges viele
Kämpfe entlang der ganzen nordostfranzösischen Grenze gab, z.B. in Elsass-Lothringen,
das in dieser Zeit eine deutsche Provinz war, und auch in Französisch-Lothringen,
insbesondere zu Anfang und Ende des Krieges. Fast die Hälfte von Französisch-Lothringen
war durch die deutsche Besatzungsarmee okkupiert, während nur ein paar
Stadtkreise im Süden des deutschen Elsass' durch die französische Armee
gehalten wurden.
Die Zerstörungen waren
insgesamt sehr stark und daher die Notwendigkeit für einen Wiederaufbau
nach dem Ende des Krieges gegeben: Beispielsweise wurden mehr als dreihundert
Kirchen in den 1920er Jahren im französischen Département Meurthe-et-Moselle
wieder aufgebaut, in einem Gebiet also, das im Mittelpunkt dieser Studie
steht. (Vor dem Krieg hatte es hier über sechshundert Kirchen gegeben.)
Die Fragestellung fügt sich nur nicht in eine kunstgeschichtliche Perspektive
ein, sondern versteht sich auch als institutionelle Analyse. Besonders
interessant scheint hinsichtlich des Wiederaufbaus, wie das Ereignis im
Kontext der longue durée zu sehen ist. Deshalb sollte man jeweils Antworten
für unterschiedliche Ebenen formulieren, oder zumindest versuchen, verschiedene
Fragestellungen zu differenzieren.
Die Analyse des Wiederaufbauprozesses
soll betreffen:
- Kunstgeschichte:
Verschiedene, fast konkurrierende Konzeptionen der Gebäuderestaurierung,
der Architektur und des Städtebaus in Frankreich und Deutschland am Anfang
des 20. Jahrhunderts (z.B. die Ecole-des-Beaux-Arts-Tradition und die
neuen Theorien Viollet-le-Ducs in Frankreich, die Einflusse Camillo Sittes
und Alois Riegels in Deutschland).
- Rechtgeschichte:
Um das Problem in seiner ganzen Tragweite zu verstehen, muss man diverse
Aspekte berücksichtigen, z.B. die Entwicklung des internationalen Kriegsrechts
wie z.B. die Haager Kriegrechtskonvention von 1894 und 1907, die französische
Gesetzgebung zum Schutze historischer Denkmäler (besonders die Gesetze
von Ende des 19. Jahrhunderts bis 1914), weiter auch die Gesetzgebung
zur Kriegsentschädigung (von 1914 bis zur Mitte der 1920er Jahre), und
- besonders die Sakralarchitektur betreffend- die laizistische Gesetzgebungsentwicklung
in Frankreich (das wichtigstes Gesetz wurde 1905 erlassen, mit verschiedenen
Einzelgesetzen speziell für zwischen 1906 und 1913 errichtete Gebäude).
- Militär-, Diplomatie-
und Politikgeschichte: In diese Perspektive ist es erforderlich, die
Gebäude als einen wichtigen Faktor im Kriegsgeschehen und im Friedensprozess
zu begreifen: Die Kostenfrage der Zerstörung und folglich der Wiederaufbau
stellten einen Schwerpunkt der Verhandlungen zwischen den verschiedenen
Kriegsparteien während des Konflikts und während der Friedensverhandlungen
dar. Das Ziel der Artikel 231 und 232 des Versailler Friedensvertrags
war vor allem die Finanzierung des Wiederaufbaus.
- Symbolische Aspekte:
Die letztgenannten Artikel haben auch eine symbolische Tragweite. Die
Haftung Deutschlands galt nicht nur in juristischer und finanzieller Hinsicht,
sondern wurde auch als moralisch und als ethisch begründet angesehen.
In dieser Sicht wurde der Wiederaufbau in Frankreich nicht nur unter ästhetischen
und urbanistischen Aspekten, nicht nur als Rekonstruktion materieller
Zerstörungen, sondern auch als moralische Wiedergutmachung wahrgenommen.
Man kann die Bauwerke
unter verschiedenen Aspekten betrachten:
- Für den Kunsthistoriker
sind die rekonstruierten Gebäude, besonders die Kirchen, vielleicht die
letzte Äußerung des Architekturhistorismus, denn sie stellen manchmal
sehr erstaunliche, getreue Kopien von ihrerseits bereits nachahmenden
Neostilbauten dar: Die Mehrheit die Kirchen waren schon zuvor nicht in
originaler Gotik, sondern in Neogotik ausgeführt und wurden im gleichen
Stil wieder aufgebaut (sie sind also letztendlich "Neo-Neogotik").
- In einer politischen
Perspektiv können diese Gebäude als ein sehr wichtiger Aspekt des Entschädigungsproblems
innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen zwischen den beiden Weltkriegen
gelten. Das Finanzierungsproblem wurde instrumentalisiert, wie John Maynard
Keynes schon im Jahre 1920 in seinem Buch "Die wirtschaftlichen Folgen
des Versailler Vertrags" bemerkt, und dies in beiden Ländern: In Frankreich,
um die besten Vertragsbedingung zu erzielen, in Deutschland, um dem Versailler
Vertrag entgegenzuwirken. Es ist allgemein bekannt, dass die Entschädigungsfrage
ein Hauptproblem für alle deutschen und französischen Regierungen zwischen
1918 und dem Beginn der 1930 Jahre war.
- Es ist ebenfalls
interessant, den Prozess der öffentlichen Finanzierung der Restaurierung
und des Wiederaufbau von mehreren hundert Kirchen in einem im Prinzip
völlig laizistischen Land - übrigens eine französische Besonderheit, damals
wie heutzutage, besonders im Vergleich mit einer total anderen Situation
in Deutschland - zu untersuchen.
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