Nicolas Padiou  
Sakralarchitektur in Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg

 

Historischer Kontext

Es ist alles andere als eine bekannte Tatsache, dass es während des Ersten Weltkrieges viele Kämpfe entlang der ganzen nordostfranzösischen Grenze gab, z.B. in Elsass-Lothringen, das in dieser Zeit eine deutsche Provinz war, und auch in Französisch-Lothringen, insbesondere zu Anfang und Ende des Krieges. Fast die Hälfte von Französisch-Lothringen war durch die deutsche Besatzungsarmee okkupiert, während nur ein paar Stadtkreise im Süden des deutschen Elsass' durch die französische Armee gehalten wurden.

Die Zerstörungen waren insgesamt sehr stark und daher die Notwendigkeit für einen Wiederaufbau nach dem Ende des Krieges gegeben: Beispielsweise wurden mehr als dreihundert Kirchen in den 1920er Jahren im französischen Département Meurthe-et-Moselle wieder aufgebaut, in einem Gebiet also, das im Mittelpunkt dieser Studie steht. (Vor dem Krieg hatte es hier über sechshundert Kirchen gegeben.) Die Fragestellung fügt sich nur nicht in eine kunstgeschichtliche Perspektive ein, sondern versteht sich auch als institutionelle Analyse. Besonders interessant scheint hinsichtlich des Wiederaufbaus, wie das Ereignis im Kontext der longue durée zu sehen ist. Deshalb sollte man jeweils Antworten für unterschiedliche Ebenen formulieren, oder zumindest versuchen, verschiedene Fragestellungen zu differenzieren.

Die Analyse des Wiederaufbauprozesses soll betreffen:

- Kunstgeschichte: Verschiedene, fast konkurrierende Konzeptionen der Gebäuderestaurierung, der Architektur und des Städtebaus in Frankreich und Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts (z.B. die Ecole-des-Beaux-Arts-Tradition und die neuen Theorien Viollet-le-Ducs in Frankreich, die Einflusse Camillo Sittes und Alois Riegels in Deutschland).

- Rechtgeschichte: Um das Problem in seiner ganzen Tragweite zu verstehen, muss man diverse Aspekte berücksichtigen, z.B. die Entwicklung des internationalen Kriegsrechts wie z.B. die Haager Kriegrechtskonvention von 1894 und 1907, die französische Gesetzgebung zum Schutze historischer Denkmäler (besonders die Gesetze von Ende des 19. Jahrhunderts bis 1914), weiter auch die Gesetzgebung zur Kriegsentschädigung (von 1914 bis zur Mitte der 1920er Jahre), und - besonders die Sakralarchitektur betreffend- die laizistische Gesetzgebungsentwicklung in Frankreich (das wichtigstes Gesetz wurde 1905 erlassen, mit verschiedenen Einzelgesetzen speziell für zwischen 1906 und 1913 errichtete Gebäude).

- Militär-, Diplomatie- und Politikgeschichte: In diese Perspektive ist es erforderlich, die Gebäude als einen wichtigen Faktor im Kriegsgeschehen und im Friedensprozess zu begreifen: Die Kostenfrage der Zerstörung und folglich der Wiederaufbau stellten einen Schwerpunkt der Verhandlungen zwischen den verschiedenen Kriegsparteien während des Konflikts und während der Friedensverhandlungen dar. Das Ziel der Artikel 231 und 232 des Versailler Friedensvertrags war vor allem die Finanzierung des Wiederaufbaus.

- Symbolische Aspekte: Die letztgenannten Artikel haben auch eine symbolische Tragweite. Die Haftung Deutschlands galt nicht nur in juristischer und finanzieller Hinsicht, sondern wurde auch als moralisch und als ethisch begründet angesehen. In dieser Sicht wurde der Wiederaufbau in Frankreich nicht nur unter ästhetischen und urbanistischen Aspekten, nicht nur als Rekonstruktion materieller Zerstörungen, sondern auch als moralische Wiedergutmachung wahrgenommen.

Man kann die Bauwerke unter verschiedenen Aspekten betrachten:

- Für den Kunsthistoriker sind die rekonstruierten Gebäude, besonders die Kirchen, vielleicht die letzte Äußerung des Architekturhistorismus, denn sie stellen manchmal sehr erstaunliche, getreue Kopien von ihrerseits bereits nachahmenden Neostilbauten dar: Die Mehrheit die Kirchen waren schon zuvor nicht in originaler Gotik, sondern in Neogotik ausgeführt und wurden im gleichen Stil wieder aufgebaut (sie sind also letztendlich "Neo-Neogotik").

- In einer politischen Perspektiv können diese Gebäude als ein sehr wichtiger Aspekt des Entschädigungsproblems innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen zwischen den beiden Weltkriegen gelten. Das Finanzierungsproblem wurde instrumentalisiert, wie John Maynard Keynes schon im Jahre 1920 in seinem Buch "Die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrags" bemerkt, und dies in beiden Ländern: In Frankreich, um die besten Vertragsbedingung zu erzielen, in Deutschland, um dem Versailler Vertrag entgegenzuwirken. Es ist allgemein bekannt, dass die Entschädigungsfrage ein Hauptproblem für alle deutschen und französischen Regierungen zwischen 1918 und dem Beginn der 1930 Jahre war.

- Es ist ebenfalls interessant, den Prozess der öffentlichen Finanzierung der Restaurierung und des Wiederaufbau von mehreren hundert Kirchen in einem im Prinzip völlig laizistischen Land - übrigens eine französische Besonderheit, damals wie heutzutage, besonders im Vergleich mit einer total anderen Situation in Deutschland - zu untersuchen.

 

Quellenfrage

Die Studie interessiert sich besonders für die Frage des Wiederaufbaus von Sakralarchitektur, und dies aus verschiedenen Gründen:

- erstens, weil es unmöglich und offensichtlich unnütz ist, all die verschiedenen Gebäudetypen zu untersuchen. Unmöglich deshalb, weil es zu viel Archivmaterial und zu viele Dokumente gibt; nutzlos, weil die Prozesse des Wiederaufbaus für alle Gebäudetypen identisch sind. Also, warum Sakralarchitektur? Deshalb, weil Sie unter verschiedenen Gesichtspunkten besonders interessant ist:

- Es handelt sind nicht um "normale" Gebäude, schon gar nicht in einem durchweg laizistischen Land wie es Frankreich (theoretisch) nach 1905 war. Fast alle Menschen, vielleicht damals mehr als heute, haben ein spezielles Verhältnis zur Sakralarchitektur: Wenn es nicht eine spontane Anziehungskraft oder Verweigerungsreaktion auf religiöser Grundlage ist, gibt es fast immer ein "ethnologisches" Interesse außerhalb der künstlerischen Fragen: Warum gilt etwas als heilig? Zudem war in den europäischen Gesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts Religion viel wichtiger als es heute ist, trotz des Laizisierungsprozesses, den manche Wissenschaftler in diese Epoche schon für vollendet hielten. In Frankreich und in allen kriegführenden Ländern war die religiöse und politische Macht einig, um die ganze Gesellschaft gegen den Feind zu mobilisieren. Gegen die Tradition des Universalismus (besonders wichtig für den Katholizismus) und die päpstliche Autorität haben die französischen Katholiken vor allem als Franzosen gehandelt und sich primär nationalistischer Indoktrination unterworfen (und so verhielten sich auch die Deutschen und alle die anderen Völker, unabhängig von der jeweils führenden Konfession). Außerdem setzte sich in dieser Epoche ein neuartiger "Kultus" durch: Alois Riegl zufolge ("Der moderne Denkmalkultus: sein Wesen und seine Entstehung", Wien, 1905) wurden die Gebäude Objekte einer neuen Religion, und dies unter historischen und/oder künstlerischen Aspekten. Wir können also sagen, das die Kirchen am Anfang 20. Jahrhunderts zwischen Kunst, Religion, Geschichte und sehr bald, mit dem Kriegsausbruch, auch der Politik stehen.

- Daher bildeten Originalquellen, vor allem Archivmaterial (sowohl offizielle Wiederaufbauakten der Verwaltung, als auch von Architekturbüros, z.B. Rekonstruktionspläne), und um dies zu vervollständigen, eine selbst gemachte Fotodokumentation der entsprechenden Gebäude den Anfang unserer Forschung. Aber schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt wurde es interessant, verschiedene Texte kirchlicher Autoren über die religiösen Aspekte des Krieges zu lesen. Und danach war es ebenfalls möglich, Texte zu finden, die den Zusammenhang zwischen religiösen und politisch-militärischen Milieus bezeugen (zum Beispiel der in Nancy ansässigen "Fédération anti-allemande de l'Est" oder das viel einflussreichere "Comité de propagande catholique"). Noch spannender zu entdecken war religiöses Grundvokabular, manchmal unbeabsichtigt angewandt in Texten von Wissenschaftlern (besonders Historiker und Archäologen) und erstaunlicher Weise häufig voll von brutal-nationalistischer Propaganda. Bis heute erstrecken sich die Nachforschungen vor allem auf französisches Quellenmaterial.

Interessant wäre darüber hinausgehend ein Vergleich zwischen deutscher und französischer Propaganda. Vielversprechend wäre es hier zum Beispiel, die historische Grundlage für die Anklagen von französischen Wissenschaftlern am Anfang des Krieges gegen die deutschen Zerstörungen französischer Baudenkmäler (besonders von Kirchen) zu ermitteln, was nicht weniger für die Widerlegung seitens deutscher Intellektueller (z.B. in einem Text mit dem Titel "Es ist nicht wahr", unterschrieben von 93 deutschen Professoren) gilt.

 

Institution

Diese Doktorarbeit geht mit Schrift und Bildern um, und versucht, zwei Perspektiven, die geschichtliche und die kunstgeschichtliche, zu kombinieren. Ziel ist es nicht nur, die Gebäude wie einen Gegenstand der Architekturgeschichte zu analysieren, sondern als zentrale Machtsymbole: In dieser Perspektive sind beides, die Gebäude und die Kunstgeschichte selbst, symbolische Faktoren.

Die Verfügung über Architekturen kann in institutionenanalytischer Perspektive sehr signifikant sein, wie Herr Rehberg in verschiedenen Artikeln gezeigt hat. So kann man zum Beispiel in der französischen Kirche nach dem Gesetz von 1905 konkrete Bereiche mit verschiedenem rechtlichen Status ausmachen: Die gesamte Kirche blieb zwar ein öffentliches Gebäude, der Glockenturm hatte eine beinahe öffentliche Rolle, aber Kultobjekte wurden Privateigentum der Gemeinde. Die Textquellen sind auch hierbei sehr wichtig: Es gab am Anfang des Krieges ungekannte Debatten über die Ursprung der Gotik zwischen deutschen und französischen Wissenschaftlern (eigentlich völlig uninteressant für die Kunstgeschichte, da voll von nationalistischer Propaganda, allerdings sehr signifikant für die Kulturgeschichte diese Kriegsepoche). Schrift und Bilder haben also zur Propaganda beigetragen, besonders im stark instrumentalisierten Fall der Zerstörung von Baudenkmälern.

Die Krisen (besonders die Kriege) geben sehr interessante Beispiele der außerordentlichen Beschleunigung von Institutionalisierungsprozessen und des Funktionierens institutioneller Mechanismen ab. Es entstanden sehr schnell Institution, die nur im Kontext des Krieges ihren Sinn hatten, zum Beispiel die Ökumene der Kriegsjahre und die institutionalisierte nationale Sammlung, wie die Union sacrée in Frankreich oder der "Burgfrieden" in Deutschland), die manchmal sehr erstaunen, denn sie konnten in völligem Gegensatz zum "normalen" Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung stehen.