1. Gegenstand der Untersuchung
Der Name des neapolitanischen Fischers Masaniello verbindet sich mit der Erinnerung an eine Periode politischer Protestbewegungen und Umbrüche, die das Vizekönigtum Neapel um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Aufruhr versetzten. Der Aufruhr begann in Neapel am 7. Juli 1647 als Hunger- und Steuerrevolte. Sie fand im Oktober des Jahres einen vorläufigen Höhepunkt mit der Absetzung des spanischen Vizekönigs und der Ausrufung der frankophilen Real Repubblica. Die republikanische Episode endete ein halbes Jahr darauf, als im April 1648 ein neuer spanischer Vizekönig in Neapel einzog. Masaniello hat den Gang der Ereignisse bis zur Restauration nicht erlebt. Er stand 27jährig im Juli 1647 für nur zehn Tage an der Spitze der Protestbewegung, bevor er als Anführer gewaltsamer Ausschreitungen selbst Opfer der Revolte wurde. Gemäßigte Aufstandsführer lieferten den auf dem Höhepunkt der Macht offensichtlich wahnsinnig Gewordenen an den Vizekönig aus, der ihn am 16. Juli 1647 ermorden ließ.
Den europäischen Kontext der Unruhen bildete der in seine letzte Phase (1635-1648) eingetretene 30jährige Krieg, der aus italienischer Sicht durch den Hegemoniekampf zwischen Spanien und Frankreich geprägt war. Italien war in dieser Zeit ein Nebenschauplatz der politischen Machtspiele um europäische und außereuropäische Einflußsphären. Das Königreich sicherte dabei die Vorherrschaft Spaniens über den Mezzogiorno.
Der Neapler Aufstand erlangte eine ähnlich große Aufmerksamkeit wie die Sezession in Spanien, die Fronde in Frankreich oder die englische Revolution. Dieses Interesse kann damit begründet werden, daß sich der Aufruhr in der nach Paris damals größten Stadt Europas entzündete, daß unterschiedlichste Interessen und Bevölkerungsschichten daran teilhatten und daß die Stadtrevolte mit zunächst noch restaurativen Zielen (Wiederinkraftsetzen des Privilegs Karls V.) bald in die Proklamation einer unabhängigen Republik mündete. Die zunehmende Radikalisierung der Ereignisse und politischen Forderungen wurde in ganz Europa verfolgt.
Die große Resonanz ging aber nicht zuletzt auch auf das Konto des charismatischen Protagonisten Masaniello. Bereits 1647 berichtete die erste Chronik über die Revolte. Die zeitgenössischen Zeugnisse bildeten europaweit bis heute die Grundlage für zahlreiche Bühnenstücke und historische Abhandlungen, in denen Masaniello die Hauptrolle übertragen wurde, obwohl er wie die historische Forschung in den letzten Jahren aufgeklärt hat, nur mehr die Rolle einer Marionette innehatte, die die Drahtzieher der Revolte für ihre Interessen zu manipulieren wußten.
Im Rahmen meines Dissertationsprojektes werden das im 17. Jahrhundert entstandene Quellenmaterial (Tagebuch, Chronik, Gesandtschaftsbericht u.ä.) und die zeitgenössischen literarischen Bearbeitungen (vor allem Dramen) analysiert. Gemeinsam ist den Texten die stoffliche Grundlage: Diese stellt eine instabile Situation vor, die ein bislang funktionierendes System im Gleichgewicht befindlicher gesellschaftlicher Verhältnisse (Ständegesellschaft, Vizekönigtum) ins Wanken bringt, und zwar völlig unberechenbar, d.h. nicht geplant, sondern im Selbstlauf der Ereignisse. Man kann zuspitzend behaupten, daß es sich beim Masaniello-Aufstand nicht um eine beliebige von vielen sozialen Unruhen der Zeit, sondern um deren (kurzzeitige) Steigerung in die unkontrollierbare Anarchie handelte.
Das Erkenntnisinteresse liegt darin, wie die Wiederherstellung der Ordnung gedacht wird, und zwar Ordnung gemeint als Sinnzusammenhang, der das unerhörte, provozierende Ereignis (im Nachhinein) rationabel macht. Denn Anarchie bedeutete im 17. Jahrhundert (noch und ganz besonders) eine absolute Grenze der Kultur, also das Undenkbare, das als solches nicht sagbar ist (auch wenn es sich ereignet hat).
Mein literaturwissenschaftliches Vorgehen soll sich aus folgenden Überlegungen herleiten. Literatur dient der Kommunikation von Geltungsansprüchen – literarische Texte unterliegen in dieser Hinsicht besonderen Reglementierungen, die diese Übertragung von Geltungsansprüchen sicherstellen. Wenn also die Frage gestellt wird, wie die Texte das Ereignis rekonstruieren, dann verbindet sich mit dieser Frage diejenige nach der speziellen Ordnungsfunktion, die der Text (als literarischer) übernimmt, um das Unerhörte vernünftig zu machen (und sei es durch Wahnsinn).
Die Ausgangsthese lautet also: die „Rebellion“ wird durch die Literarisierung, d.h. durch Einbindung in ein literarisches Modell „domestiziert“. Die Aufgabe wird sein, anhand der unterschiedlichen Textsorten, die als Material zur Verfügung stehen, diese spezifische Ordnungsfunktion plausibel zu machen.
3. Literaturauswahl
[T.B.], The Rebellion of Naples, or the Tragedy of Massenello.1649.
Christian WEISE, Von dem neapolitanischen Hauptrebellen Masaniello. 1682.
Thomas D’URFEY, The Famous History of the Rise and Fall of Masaniello. 1699.
Le rivoluzioni di Napoli Descritte dal Signor Alessandro GIRAFFI. Con pienissimo ragguaglio d’ogni successo, e trattati secreti, e palesi. Venetia: Per il Baba. Zuerst 1647.
Diario di Francesco CAPECELATRO contenente la storia delle cose avvenute nel Reame di Napoli negli anni 1647-1650. Hg. von Angelo Graniti. Vol. I-III. Napoli: Gaetano Nobile 1850.