Dr. Kirsten Kramer

 

 

Projektskizze zum Forschungsvorhaben

"Spiegel, Bilder, Schrift. Strukturen und Funktionen des Visuellen in der italienischen und spanischen Lyrik des Petrarkismus"

 

1 Kurzbeschreibung

Gegenstand der Untersuchung ist die literarische Inszenierung medial vermittelter visueller Wahrnehmungsprozesse in der höfisch geprägten Lyrik des italienischen und spanischen Petrarkismus. Die petrarkistische Liebeslyrik faßt den Blickaustausch der Liebenden nicht nur als einen Vorgang der Spiegelung auf, sondern situiert die Darstellung der sinnlichen Wahrnehmung zudem im Kontext einer bislang nur marginal gewürdigten ästhetischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen künstlerischen Bildmedien und optischen Apparaten. Das Projekt, dessen Schwerpunkt auf einer vergleichenden Analyse des Oeuvres Gaspara Stampas, Garcilaso de la Vegas und Luis de Góngoras liegt, verfolgt das Ziel, das epochenspezifische Profil petrarkistischer Dichtung auf den historischen Prozeß der Entstehung einer frühneuzeitlichen visuellen Kultur zu beziehen, die im optischen Instrument des Spiegels eine ihrer prägnantesten materiellen Verkörperungen findet. Es ist zu untersuchen, inwieweit der veränderte Status des Visuellen innerhalb der Renaissancekultur das Paradigma für die Ausdifferenzierung neuartiger Strukturen ästhetischer Erfahrung und innovativer literarischer Schreibpraktiken bildet, die sich der Figur eines körpergebundenen Perspektivismus zuordnen lassen.

 

2 Stand der Forschung

Forschungsliteratur zur Lyrik des Petrarkismus: In der neueren Forschung ist durchgängig die Tendenz zu beobachten, Entstehung und spezifische Strukturmerkmale der petrarkistischen Lyrik, die vom 15. bis zum 17. Jahrhundert im gesamten europäischen Raum eine beherrschende Stellung einnimmt, auf das kulturelle Selbstverständnis der Epoche der Renaissance zu beziehen. Der Rekurs auf epochenspezifische Charakteristika kennzeichnet zunächst jene vielbeachtete systematische Bestimmung des literarhistorischen Phänomens, die die für die petrarkistische Liebeslyrik konstitutive Praxis der zitathaften Übernahme und textuellen Montage bekannter Themen, Motive und Stilfiguren der literarischen Tradition als ästhetischen Ausdruck einer in der Renaissance zutagetretenden Heterogenität und Pluralisierung von Diskursen und Sprachen deutet (Warning 1987) und mit der von Bachtin entwickelten Kategorie der 'Dialogizität' (Bachtin 1979) verbindet. Dieser Feststellung einer signfikanten historischen Differenzrelation zwischen petrarkischem und petrarkistischem Dichten stellt sich ein insbesondere in der italianistischen Forschung verbreiteter Ansatz entgegen, der sich auf die ästhetischen Postulate der imitatio und aemulatio beruft und den Petrarkismus stattdessen als Ausprägungsform eines literarischen 'Systems' begreift, das sich wesentlich durch die Wiederkehr der petrarkischen Liebessemantik der dolendi voluptas kennzeichnet (Forster 1969, Hempfer 1987 und 1993). Ungeachtet der divergierenden systematischen Bestimmungen handelt es sich bei der Mehrheit der neueren italianistischen und hispanistischen Arbeiten zu den Einzelautoren um Untersuchungen, die sich vorrangig mit der dichterischen Nachahmungspraxis der Renaissance-Lyriker befassen, wie sie sich aus der humanistischen Programmatik der imitatio und der von Bembo geleisteten Übertragung dieser Programmatik auf den volkssprachlichen Bereich herleitet. Die petrarkistischen Texte werden daher vor allem auf die in ihnen zutagetretenden intertextuellen Bezüge zu Petrarcas Canzoniere wie auch zu literarischen Referenzdiskursen antiker und zeitgenössischer Provenienz befragt. Untersucht werden dabei neben der paradoxalen und zeichenhaften Liebessemantik Petrarcas (Wehle 1992), die in der christlichen Tradition der acedia gründet und in petrarkistischen Texten vielfach mit gegenläufig konnotierten Affektkodierungen der antiken erotischen Literatur oder des Neoplatonismus kontrastiert wird (Hoffmeister 1973, Parker 1985, Regn 1987, Cruz 1988, Höfner 1993, Sanchez Robayna 1993), auch die je individuellen sprachlichen Darstellungsverfahren der Einzelautoren sowie das in den Texten sich artikulierende poetologische Selbstverständnis der Dichter (Kablitz 1992 u. 1993).

In jüngerer Zeit sind darüber hinaus zahlreiche Arbeiten entstanden, die sich mit der literarischen Kodierung der Geschlechterdifferenz in den Werken weiblicher petrarkistischer Autoren beschäftigen (Schulze-Witzenrath 1974, Förster 1985, Rigolot 1990, Oster 1995) und sich besonders im hispanistischen Bereich methodisch auf Befunde der gender-Theorie stützen (Smith 1989, Olivares 1992). Insgesamt läßt sich innerhalb der neueren Forschung eine zunehmende Öffnung auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen - so den interkulturellen Zusammenhang von translatio und imitatio (Navarrete 1994, Vinken 2001) und die literarische Darstellung von Körperlichkeit (Weich 1999, Nitsch 2000 und 2001) - wie auch die Entstehung einer mediengeschichtlich orientierten Forschungsrichtung beobachten, die sich insbesondere mit historischen Ausdifferenzierungen und Überlagerungen oraler und schriftlicher Kommunikationsformen befaßt (Rivers 1983, Frenk 1997). Ergänzt werden diese Forschungsansätze durch vereinzelte Untersuchungen, die ihr Erkenntnisinteresse auf die in den lyrischen Texten der hier behandelten Autoren auftretende Thematisierung der Malerei und der frühneuzeitlichen Kunstdebatte richten (Selig 1972, Paterson 1977, Bergmann 1979) und die sich zu bereits genannten Arbeiten in Beziehung setzen lassen, in denen bisweilen auch das aus der höfischen Tradition übernommene Blickmotiv der Liebenden beiläufig in die Analysen einbezogen, dabei jedoch in aller Regel der Frage nach den Funktionen intertextueller Verweisstrukturen untergeordnet wird. Bei der Untersuchung der im Petrarkismus vollzogenen ästhetischen Auseinandersetzung mit frühneuzeitlichen Bild- und Perzeptionsmodellen läßt sich daher an eine Reihe von Arbeiten zu den Einzelautoren anknüpfen, in denen die Aufarbeitung zentraler intertextueller Referenzbezüge bereits partiell geleistet wurde. Gerade die Untersuchungen zur literarischen Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst und zum petrarkistischen Blickmotiv beschränken sich jedoch vorwiegend auf eine thematisch oder motivgeschichtlich orientierte Betrachtungsweise von Einzelphänomenen. Die für die Entstehung der Renaissancekultur konstitutive Wechselbeziehung neuartiger medialer Bildpraktiken und Wahrnehmungsmodelle kann so in ihren Auswirkungen auf literarische Darstellungsverfahren nicht erfaßt werden. Eine kulturwissenschaftlich reflektierte Untersuchung der Strukturen und Funktionen des Visuellen in der petrarkistischen Lyrik stellt daher ein wichtiges Desiderat der Forschung dar.

Forschungsliteratur zur visuellen Kultur der frühen Neuzeit: Die breit gefächerte kultur-, kunst- und mediengeschichtliche Bilddiskussion hat in den vergangenen Jahren eine große Anzahl an Forschungsarbeiten hervorgebracht, die sich mit dem Status des Visuellen innerhalb der Entstehung der frühneuzeitlichen Kultur befassen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird im folgenden nur auf Arbeiten verwiesen, die als repräsentativ für die jeweilige Forschungsrichtung bzw. das jeweilige Untersuchungsgebiet gelten können.

Zunächst sind jene neueren kulturwissenschaftlichen Studien zu nennen, die das Phänomen visueller Wahrnehmung nicht als eine anthropologische Konstante, sondern als ein Produkt kultureller und historischer Interaktionsprozesse begreifen. Sie rekonstruieren die abendländische Geschichte des Sehens in der vergleichenden Zusammenschau historischer Wahrnehmungskonzepte, welche innerhalb der Disziplinen der philosophischen Erkenntnistheorie, der Optik und der Geometrie entstanden sind und deren antike und mittelalterliche Spielarten auch in den Künsten und Wissenschaften der frühen Neuzeit partiell noch fortwirken (Lindberg 1976, Burckhardt 1997, Konersmann 1999, Boehm 1999). Im Bereich der kunstgeschichtlichen Forschung sind für mein Projekt insbesondere jene Untersuchungen von Bedeutung, die sich um die Grundlegung einer mediologisch wie auch anthropologisch orientierten 'Bildwissenschaft' (Belting 2001a) bemühen und die Repräsentationsleistung der künstlerischen Bildmedien der Renaissance und des Barock unter Bezugnahme auf deren materiale Verfaßtheit, auf die besonderen bildgebenden Verfahren wie auch auf den in ihnen jeweils implizierten perspektivischen Standpunkt des Betrachters zu beschreiben suchen (Boehm 1969, Marin 1993, Boehm 1995, Bryson 2001, Wetzel 2002). Diesem Forschungszweig sind auch solche Arbeiten zuzurechnen, die sich mit der Herausbildung des für die Renaissancekunst charakteristischen Verfahrens zentral- oder linearperspektivischer Raumkonstruktion (Panofsky 1964, Damisch 1995, Baltrusaitis 1996, Fischer 1996) und mit der Entstehung spezifisch neuzeitlicher Bildgattungen wie dem Portrait (Checa 1983, Boehm 1985, Belting 2001b) oder dem Tableau (Stoichita 1998) befassen. Ebenso lassen sich ihm Ansätze zuordnen, die sich in Grenzbereichen der traditionellen Kunstgeschichte ansiedeln und der Frage nachgehen, inwieweit künstlerische Bildformen eigenständige 'Ordnungen der Sichtbarkeit' und neue Formen des Sehens hervorzubringen imstande sind (Imdahl 1980, Waldenfels 1995).

Komplementär zu den skizzierten Positionen ist in den letzten Jahren ferner eine Forschungsrichtung entstanden, die ihr Interesse auf die Entwicklungsgeschichte frühneuzeitlicher optischer Apparate richtet (Mannoni 1995, Crary 1999) und insbesondere die lange vernachlässigte, in der Literatur jedoch schon früh gewürdigte Bedeutung des Spiegels erschlossen hat, der in den Epochen der Renaissance und des Barock nicht nur als wirkungsmächtiges metaphorisches Ordnungskonzept, sondern auch als materielles Instrument des Sehens eine wichtige kulturelle Funktion übernimmt (Baltrusaitis 1978, Haubl 1991, Eco 1995, Faßler 2000, Haubl 2000, Teuber 2002). Ungeachtet der auffallenden intermedialen und interdisziplinären Ausrichtung vieler Studien, die sich im Bereich der Geschichte der Technik, der Naturwissenschaften und der Ästhetik mit der wechselseitigen Verschränkung frühneuzeitlicher Wahrnehmungsmodelle und Bildpraktiken befassen, ist es jedoch kennzeichnend für die skizzierten Forschungsansätze, daß in ihnen die literarische Produktion der Epoche bestenfalls als historisches Belegmaterial für den Prozeß der Herausbildung neuartiger Perzeptionsmodelle behandelt wird. Eine Untersuchung, die sich in systematischer Weise mit dem funktionalen Zusammenhang befaßt, der in der frühneuzeitlichen Dichtung zwischen visuellen Wahrnehmungsstrukturen und bildtechnischen Verfahren einerseits und spezifisch literarischen Schreibpraktiken andererseits hergestellt wird, liegt bislang nicht vor.

 

3 Ziele

In gleichermaßen kulturanthropologischer, mediologischer wie auch literaturwissenschaftlicher Ausrichtung verfolgt die Untersuchung das übergreifende Ziel, die Entstehung der höfisch geprägten Lyrik des italienischen und spanischen Petrarkismus auf den historischen Prozeß der Herausbildung frühneuzeitlicher Perzeptionsmodelle und Bildpraktiken zu beziehen, um damit neue Perspektiven für die kulturhistorische Situierung der in Frage stehenden Dichtung zu eröffnen. Näherhin ist zu untersuchen, inwieweit signifikante historische Veränderungen im Bereich der Konzeptualisierung und Inszenierung des Visuellen neue Strukturen ästhetischer Erfahrung hervorbringen, welche innerhalb der petrarkistischen Lyrik ihrerseits die Ausdifferenzierung spezifisch literarischer Darstellungsverfahren bedingen, die im Zeichen eines körpergebundenen Perspektivismus stehen. Das Projekt wird dabei den Schwerpunkt auf die vergleichende Untersuchung des lyrischen Oeuvres Gaspara Stampas, Garcilaso de la Vegas und Luis de Góngoras setzen, da es die Zusammenschau dieser drei Autoren ermöglicht, Entstehung und literarische Verbreitung innovativer petrarkistischer Schreibpraktiken als inhärenten Bestandteil der sehr engen interkulturellen Austauschprozesse zwischen der italienischen und der spanischen Literatur zu erfassen, die sich bekanntlich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts aus der gleichzeitigen politisch-institutionellen Hegemonialstellung der spanischen Krone und dem in Spanien verbreiteten Bewußtsein der kulturellen Unterlegenheit gegenüber Italien herleiten und die der frühneuzeitlichen lyrischen Produktion eine zentrale Rolle innerhalb des Prozesses der Herausbildung umfassender Strategien kultureller Selbstlegitimation verleihen, welche sich im Tropus der translatio studii verdichten. Darüber hinaus erlaubt es der kontrastive Vergleich, die Veränderungen lyrischer Darstellungsverfahren im historischen Übergang von der Renaissance zum frühen Barockzeitalter zu verfolgen.

Die Liebeslyrik des Petrarkismus zeichnet sich durch den Rekurs auf eine lange Tradition literarischer Affektkodierung aus, die dem distanzierten Blickkontakt der Liebenden eine Schlüsselfunktion zumißt und den visuellen Wahrnehmungsprozeß als einen Vorgang der Spiegelung begreift. Für die Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts ist jedoch charakteristisch, daß sie die Thematisierung und Inszenierung reflektorischer Perzeptionsvorgänge in deutlich stärkerem Maße, als dies bei Petrarca oder bei den mittelalterlichen Vorgängern geschieht, in den Kontext einer weiterreichenden ästhetischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Bildmedien und optischen Apparaturen rückt, die häufig ebenfalls mit konkreten Spiegelsituationen assoziiert werden. Um den funktionalen Zusammenhang, der zwischen den inszenierten Sehprozessen und den je individuellen Schreibpraktiken der Autoren besteht, angemessen situieren und präzise beschreiben zu können, ist es daher erforderlich, der Bearbeitung des lyrischen Oeuvres der genannten Autoren einen ersten Untersuchungsabschnitt voranzustellen, in dem aus systematischer und historischer Sicht das kulturelle Bezugsfeld rekonstruiert wird, in das sich die petrarkistischen Texte im Zuge ihrer imaginativen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Wahrnehmungs- und Bildmodellen einschreiben.

Da die petrarkistische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Phänomenen des Visuellen ihren Ausgang von reflektorischen Wahrnehmungsprozessen nimmt, zielt diese Rekonstruktion insbesondere auf eine historische Präzisierung der divergierenden Erscheinungsformen und Funktionen des Spiegels ab, der in der frühneuzeitlichen Kultur nicht nur als metaphorische Bildfigur mit je besonderer theologischer, philosophischer oder mythologischer Aufschlußkraft, sondern auch und vor allem als ein materieller und technisch konstruierter optischer Apparat des Sehens figuriert. Zu berücksichtigen ist in diesem Kontext zunächst die historische Herausbildung unterschiedlicher theoretischer Erklärungsmodelle des Phänomens visueller Perzeption, an deren Abfolge sich paradigmatisch zentrale Etappen der abendländischen Geschichte des Augensinns ablesen lassen. Die Epoche der Renaissance ist dabei durch eine ambivalente Situation gekennzeichnet: Einerseits mündet hier die in der wirkungsmächtigen Tradition der platonischen theoria vorherrschende Unterscheidung zwischen der sinnlichen Perzeption des empirisch Sichtbaren und der auf die Sphäre des Unsichtbaren gerichteten inneren oder geistigen Schau in eine graduelle Konvergenz beider Perzeptionsmodelle, in der die platonisch-christliche Hierarchisierung von Sinnes- und Erkenntnisvermögen allmählich preisgegeben wird. Andererseits behält gerade das platonische Erklärungsmodell des Sehens auch in der Renaissance (so bei Ficino, Alberti, Leonardo da Vinci e.a.) noch seine Gültigkeit und tritt in Konkurrenz zu komplementären Theorieentwürfen, die sich aus der aristotelischen Tradition herleiten und über die Vermittlung islamischer Optiktheorien in die Neuzeit eingehen. Sowohl für die platonische Sehstrahltheorie, die den Sehvorgang als einen aktiven Prozeß der Emission von Strahlen begreift, als auch für das aristotelische Rezeptionsmodell, das auf der Annahme eines passiven Wahrnehmungsprozesses beruht und das im 17. Jahrhundert in der physikalischen Optik weiterentwickelt wird, ist es konstitutiv, daß in ihnen der Vorgang visueller Perzeption in exakter Entsprechung zur technischen Funktionsweise des optischen Apparates des Spiegels beschrieben wird.

Der kulturgeschichtlichen Bedeutung des Spiegels ist des weiteren im Bereich der bildenden Künste der frühen Neuzeit nachzugehen. Den Künstlern, die das für die Renaissancemalerei charakteristische Verfahren der Zentral- oder Linearperspektive entwickeln, dient der Spiegel entweder als ein Hilfsinstrument, das die korrekte Übertragung der gemäß der geometrischen Optik berechneten Raumrelationen der Objekte auf die Oberfläche des gemalten Bildes gewährleistet, oder als Kontrollinstanz, die die nachträgliche Überprüfung der mathematischen Exaktheit des perspektivisch konstruierten Bildraumes ermöglicht (Brunelleschi, Alberti e.a.). Die bildtechnische Darstellungsform entspricht der Funktionsweise des Spiegels, insofern das perspektivische Bild nicht nur einen dreidimensionalen 'Fensterblick' auf die äußere Erscheinungswirklichkeit eröffnet, sondern zugleich den abstrahierten und standardisierten Blick abbildet, den der Bildbetrachter auf die Wirklichkeit richtet. Die grundsätzliche Affinität von Spiegel und Malerei läßt sich darüber hinaus in spezifisch frühneuzeitlichen Bildgenres wie dem Porträt nachweisen, dem eine Ähnlichkeitsrelation von Modell und porträtierter Person zugrundeliegt und das im Wechsel von der Profilansicht zur Frontalansicht ebenfalls den Blick des Bildbetrachters reflektiert.

Die Rekonstruktion des kulturellen Bezugsfeldes petrarkistischer Lyrik muß schließlich auch die umfangreiche Produktion optischer Apparaturen berücksichtigen, die bereits im 16. Jahrhundert im Zuge der frühneuzeitlichen 'Entdeckung der Welt' zu wissenschaftlichen Zwecken wie auch zur Unterhaltung des Volkes entwickelt werden und deren Erforschung im Zeitalter des Barock insbesondere von den Jesuiten vorangetrieben wird. Zu diesen Apparaturen zählen nicht nur optische Linsen oder einfache plane, konkave und konvexe Metall- und Glasspiegel, die im 17. Jahrhundert den Bestandteil optischer Sehinstrumente wie der Camera obscura, des Mikroskops oder des Teleskops bilden, sondern auch die zahlreichen komplexen katoptrischen Installationen, in denen der Betrachter mit verwirrenden Multiplikationen und Deformierungen vertrauter visueller Alltagsphänomene konfrontiert wird (G. della Porta, A. Kircher e.a.). Im Rahmen der exemplarischen Aufarbeitung des historischen Materials ist insgesamt zu untersuchen, inwieweit das optische Instrument des Spiegels in seinen variierenden Erscheinungsformen in der visuellen Kultur der frühen Neuzeit den Status eines medialen Dispositivs gewinnt, an dem sich signifikante Transformationen in der historischen Organisation der Sinneswahrnehmung nachvollziehen lassen. Angesichts der Entstehung zahlloser katoptrischer Apparaturen, deren Wirkungsweise innerhalb der frühneuzeitlichen Malerei eine Entsprechung in bildtechnischen Verfahren wie der Anamorphose oder der im Manierismus verbreiteten Doppelung und Überkreuzung rivalisierender (zentral-)perspektivischer Ansichten findet, ist dabei nicht nur zu fragen, ob und inwiefern der Spiegel von einem primär abbildlichen Sehinstrument zu einem bilderzeugenden Medium avanciert, das sich nicht auf die bloße Reproduktion des Vorhandenen beschränkt. Vielmehr wäre in Auseinandersetzung mit bestehenden Forschungsansätzen in den genannten Einzeldisziplinen übergreifend zu klären, inwieweit das optische Medium eigene Ordnungen des Sichtbaren hervorbringt und so perspektivische Wahrnehmungsmodi freisetzen kann, die in den theoretischen Erklärungsmodellen der Renaissance noch nicht hinreichend erfaßt werden, ihrerseits jedoch ein neues Paradigma der ästhetischen Erfahrung ausbilden und daher auch in den literarischen Texten der Epoche aufgegriffen werden können.

Den Hauptteil der Studie wird die systematische Untersuchung des lyrischen Oeuvres Gaspara Stampas, Garcilaso de la Vegas und Luis de Góngoras bilden, deren Texte in den skizzierten kulturgeschichtlichen Zusammenhang der Entstehung der frühneuzeitlichen visuellen Kultur eingeordnet werden sollen. Die Bearbeitung des Textmaterials wird dabei die Leitfrage verfolgen, welche Beziehung zwischen der Inszenierung von Wahrnehmungsstrukturen und der Thematisierung zeitgenössischer Bildpraktiken besteht und welche je individuellen literarischen Darstellungsverfahren sich aus der ästhetischen Auseinandersetzung mit Phänomenen des Visuellen ergeben.

In Gaspara Stampas 1554 erstmals veröffentlichter Sammlung der Rime d'amore nimmt das Zusammenspiel unterschiedlicher Wahrnehmungsformen einen für den italienischen Petrarkismus ungewöhnlich breiten Raum ein. Bei dieser Sammlung, die aus 245 Einzelsonetten besteht, handelt es sich innerhalb der Reihe der hier zugrundegelegten Autoren um den einzigen weitgehend abgeschlossenen Zyklus, der wie Petrarcas Canzoniere über ein narratives Substrat verfügt und die einzelnen Stationen der dargestellten Liebesbeziehung in chronologischer Reihenfolge präsentiert. Stampa entwirft besonders in jenen Sonetten, die die Phase des innamoramento beschreiben, eine umfassende literarische Phänomenologie visueller Wahrnehmungsformen, die das topische Motiv des Augenkontakts der Liebenden in immer neuen Variationen umkreist. In Anlehnung an die mittelalterliche höfische Tradition und das Referenzmodell Petrarcas stellt Stampa den Blickaustausch im Rekurs auf das platonische Erklärungsmodell des Sehvorgangs als eine Emission von Strahlen dar, die von den Augen des Geliebten ausgehen und mit den Pfeilen Amors assoziiert werden, welche in der Liebhaberin das erotische Begehren auslösen. Ebenso finden sich in zahlreichen Sonetten metaphorische oder buchstäbliche Wendungen, die auf den reflektorischen Charakter des Wahrnehmungsvorgangs abheben und das Auge des Geliebten abwechselnd als Lichtquelle und als Spiegel beschreiben, in dem die lyrische Sprecherin das Bild des eigenen Selbst erblickt. Schreibt sich Stampa damit unverkennbar in die skizzierte Tradition platonischer und neuplatonischer Deutungen des Sehvorgangs ein, so ist im Zyklus andererseits die Tendenz zu beobachten, den mit dieser Tradition vorgegebenen epistemologischen Bezugshorizont unwiderruflich zu verlassen. So dokumentieren zahlreiche über die gesamte Sammlung verteilte Einzeltexte, in denen die innere Schau des Geliebten mit Formen der äußeren, sinnlichen oder körperlichen Wahrnehmung konfrontiert wird, daß die platonische Rangordnung von Sehen und Erkennen eine Umkehrung erfährt. Der Übergang von innerer zu äußerer Wahrnehmung tritt auch in einer Sequenz von Maler- und Bildhauersonetten zutage, die explizit auf Bildpraktiken Tizians und Michelangelos Bezug nehmen und im Rahmen einer literarischen Auseinandersetzung mit dem Bildgenre des Porträts das bereits in der Inszenierung des reflektorischen Sehvorgangs angelegte und in der zeitgenössischen Kunstdebatte diskutierte Problem der spiegelbildlichen Ähnlichkeit von Bild und dargestellter Person erneut aufgreifen. Stampa entwirft dabei geschlechtsspezifisch differenzierte Bildmodelle, in denen sukzessive nicht nur die Übereinstimmung mit den inneren Wesenseigenschaften der porträtierten Person, sondern auch die äußere Körperreferenz suspendiert wird. In der von ihr fokussierten Verdoppelung simultan präsentierter Körperansichten öffnen sich diese fiktiven Entwürfe auf einen bildtechnischen Perspektivismus, der seine signifikante textuelle Entsprechung in einer für die Epoche neuartigen Verdoppelung lyrischer Sprechinstanzen im Sonett findet, die sich zugleich als originelle Variante der literarischen Umsetzung der dualistischen Affektstruktur der dolendi voluptas zu erkennen gibt. Es ist daher genauer zu untersuchen, inwiefern der am bildlichen Spiegelmodell entwickelte Perspektivismus sich auf den Horizont einer spezifisch weiblichen lyrischen Kodierung der in der petrarkistischen Liebessituation angelegten Geschlechterdifferenz beziehen läßt. Dabei sind neben Petrarcas zahlreichen Beschreibungen von Spiegelsituationen auch die textuellen Vorgaben zeitgenössischer männlicher Dichter des Petrarkismus (Bembo, Della Casa) paradigmatisch einzubeziehen.

Auch in Garcilaso de la Vegas zwischen 1526 und 1536 entstandenem lyrischen Oeuvre wird das besonders in den Liebessonetten vielfach wiederkehrende Phänomen des Blickaustauschs im impliziten Rückgriff auf die platonische Sehstrahltheorie und das ihr zugrundeliegende Modell der Spiegelung beschrieben. Ebenso mündet die wiederholte Gegenüberstellung von innerer Schau und äußerer Perzeption im Werk Garcilasos erneut in eine deutliche Privilegierung und Verselbständigung sinnlicher und körpergebundener Wahrnehmungsformen. Neuartige Darstellungsvarianten zeichnen sich in seinen Texten insofern ab, als die sinnliche Perzeption der Geliebten bisweilen einen voyeuristischen männlichen Blick freisetzt, der die zunehmende Sexualisierung des petrarkistischen Liebescodes dokumentiert und mit dem die Ausnahmesituation der Liebenden zugleich in den alltagsweltlichen Kontext der höfischen Öffentlichkeitserfahrung gerückt wird, deren literarische Kodierung sich mit der sinnfälligen Orientierung an den von Castiglione in Il libro del Cortegiano benannten Regeln höfischer Verhaltensformen im kulturgeschichtlichen Kontext der translatio studii situiert. Darüber hinaus sind in den Liebessonetten zahlreiche Beschreibungen gläserner oder kristalliner Materialien und spiegelnder Wasseroberflächen zu finden, die den äußeren Bezugsrahmen für die literarische Inszenierung von Wahrnehmungsprozessen bilden und in impliziter Form auf jenen Mythos des Narcissus anspielen, der in der zweiten Ekloge des Autors eine umfangreiche szenische Ausgestaltung erfährt. In der Inszenierung von Spiegelblicken, die dem Liebhaber einerseits Ansichten der abwesenden Geliebten eröffnen, andererseits die beunruhigende visuelle Erfahrung des Verlusts des eigenen Körpers bedingen, scheint diese zweite Ekloge gerade jene optischen Effekte und perspektivischen Brechungen zur Darstellung zu bringen, die auch in den katoptrischen Spiegelapparaturen der frühen Neuzeit angestrebt werden und im bildtechnischen Verfahren der Anamorphose ihr pikturales Pendant finden. Ferner weist der Text zahlreiche intertextuelle Bezüge zur dritten Ekloge auf, in der die ausführliche Beschreibung einer Serie von Tapisserien auftritt, deren impliziter Rekurs auf frühneuzeitliche Bildpraktiken und -theorien schon in den zeitgenössischen Kommentaren (Herrera, Las Brozas) aufgedeckt wird. Es wird daher näher zu untersuchen sein, welcher funktionale Zusammenhang in Garcilasos Oeuvre zwischen der literarischen Inszenierung katoptrischer Spiegelungseffekte und der Evokation spezifischer Bildtechniken der zeitgenössischen Malerei besteht. Neben der erwähnten Komplementarität von technischen Apparaturen und anamorphotischen Kunstverfahren ist dabei auch die von Alberti theoretisch begründete Ableitung der Malerei aus dem Mythos des Narcissus zu berücksichtigen. Des weiteren wird im Rahmen eines Vergleichs mit zeitgenössischen Autoren (Boscán, Herrera) zu prüfen sein, ob und inwiefern in Garcilasos Lyrik literarische Schreibpraktiken auftreten, die auf eine vorrangig optische Darstellung der illusionistischen Projektionen des melancholischen petrarkistischen Liebhabers abzielen und in denen die in der Sehstrahltheorie wie auch im Verfahren zentralperspektivischer Bildkonstruktion vorausgesetzte Homogenität des Raumes aufgehoben wird.

In Góngoras Lyrik, die zwischen 1582 und 1623 entsteht, wird noch einmal das reflektorische Emissionsmodell des Sehens aufgerufen. Es wird nun aber verstärkt mit neuartigen Perzeptionsmodellen konfrontiert, an denen sich zum einen paradigmatisch der kulturhistorische Übergang von der Epoche der Renaissance zum Barock und zum anderen die Transformation der translatio studii in eine translatio medialer Konfigurationen nachvollziehen läßt. So kontrastieren die Liebessonette des Autors den aktiven Sehvorgang des petrarkistischen Liebhabers mit passiven Wahrnehmungsformen, für die nun nicht mehr primär das Medium des Spiegels, sondern der technische Apparat der Camera obscura einsteht, der seit Leonardo da Vinci in zahlreichen optischen Traktaten das heuristische Modell für die Erklärung der Funktionsweise des menschlichen Auges abgibt. Die Künstlersonette Góngoras zeichnen sich hingegen durch den neuerlichen Rekurs auf die frühneuzeitliche Bildgattung des Porträts aus. Hatte Stampa das Porträt freilich noch vorrangig unter dem Aspekt der Ähnlichkeit von Bildgegenstand und Modell betrachtet, so fokussiert Góngora in kritischer Frontstellung gegen die neoplatonische Kunstmetaphysik insbesondere die Materialität des Trägermediums, welche das gemalte Bild als eine physische Verdoppelung des porträtierten Körpers ausweist, das bewegte optische Erscheinungen zur Darstellung zu bringen vermag und sich darin neuerlich dem Medium des Spiegels annähert. Vollzieht sich bereits in den Sonetten die Herausbildung einer 'kultistischen' Bildlichkeit, so findet diese ihre Fortsetzung in den später verfaßten Langgedichten (Soledades, Fábula de Polifemo y Galatea). Sie setzen die Wahrnehmung optischer Phänomene in überaus komplexen Metaphernkonstruktionen um, die bisweilen einen technischen oder wissenschaftlichen Motivationsgrund zu erkennen geben und in ihrer strukturellen Gestalt auf einen veränderten kulturgeschichtlichen Erfahrungshorizont verweisen. Innerhalb dieses Untersuchungsabschnitts gilt es zu klären, inwieweit der signifikante Umschlag von aktiven zu passiven Sehprozessen einen Übergang von der tradierten petrarkistischen Affektstruktur der dolendi voluptas zu literarischen Figurationen barocker Melancholie erkennen läßt, die im Zeichen eines zunehmenden Selbst- und Weltverlusts des Subjekts steht. Die komplexen gongorinischen Bildkonstruktionen der Langgedichte lassen zudem fragen, inwiefern sich hier Ansätze einer 'perspektivischen' Metaphorik abzeichnen, die aus literarhistorischer Sicht innerhalb einer frühneuzeitlichen Entstehungsgeschichte spezifisch moderner Schreibverfahren zu situieren wäre.

Insgesamt sind im Rahmen der Untersuchung drei zentrale Leitfragen zu verfolgen: In epistemologischer Hinsicht ist in Auseinandersetzung mit bestehenden Forschungsansätzen (Hempfer 1993 e.a.) zu erwägen, ob sich nicht bereits im 16. Jahrhundert ein Übergang von der von M. Foucault beschriebenen 'Episteme der Ähnlichkeit' zu einer 'Episteme der Repräsentation' abzeichnet (Foucault 1966), deren Entstehung mit der Preisgabe der Vorstellung einer universellen Einheit und homogenen Ordnung des Kosmos einhergeht. In mediologischer Hinsicht wäre im kritischen Dialog mit bestehenden medienanthropologischen Theorieansätzen zu klären, ob und inwiefern sich die Technik des Spiegels, der im Sinne McLuhans (McLuhan 1995) eine 'prothetische Extension' des natürlichen menschlichen Sehvermögens darstellt und sich innerhalb der visuellen Kultur der frühen Neuzeit im Grenzbereich zwischen Magie und Wissenschaft situiert, als elementare Antriebskraft eines literarischen Imaginären begreifen läßt, das bislang entweder ohne Rücksicht auf mediengeschichtliche Transformationsprozesse beschrieben (Iser 1991) oder aber vorrangig auf nicht-literarische Darstellungsmedien bezogen wurde (Pfeiffer 1999). In kulturanthropologischer Hinsicht wäre schließlich zu prüfen, ob und inwiefern die im Rahmen petrarkistischer Liebeslyrik erfolgende ästhetische Inszenierung visueller Wahrnehmungsprozesse sich auf eine literarische Genealogie des Körpers und des menschlichen Sinnesapparates öffnet, die im Rahmen wissenschaftlicher und theoretischer Erklärungsmodelle erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts formulierbar wird.

 

Anhang:
Auswahlbibliographie zu 2 (Stand der Forschung)

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